Donnerstag, 19. März 2009

Hanni und Nanni, trostlose Weltliteratur und großer Quatsch.

Wir sitzen im Zug. Schon wieder. Langsam nervt uns dieses ewige Pendeln zwischen unseren Heimaten. Meine Mitreisende erzählt mir von einem Spiel, welches sie letzte Woche auf einer der Fahrten zwischen dort und hier und hier und dort erfand: Während der Zug sich durch die Landschaft quält möge man so viele blaue Dinge wie möglich finden. Schon nach ein paar Minuten fällt einem jedes blaue Detail der Umgebung ins Auge: Trampoline, Kinderspielzeug, Regentonnen, Metallzäune, Häuseranstriche, Fabrikwellblech, Kraftwerk Ibbenbüren. Zwar nicht blau, aber rot und größtenteils grau und größtenteils hässlich und definitiv auf einem Bergrücken. Das Kraftwerk lauert da oben über die da unten lebenden Menschen: „Hoho, Menschen, wenn ihr mich nicht gut pflegt und mich nicht gnädig stimmt, dann werdet ihr leiden und euch keine Mikrowellenpopcorn zum Fernsehen machen können! Ihr seid dann gezwungen Dinge mit Chlorophyll drin zu essen und Bücher zu lesen! Seht euch vor, hoho!“ Und die Menschen fürchten sich wie im Mittelalter der Vasall vor den Lehnsherren. Gleichzeitig mögen die Menschen das Kraftwerk, so wie es dort oben schön thront. Allerdings hätte man vielleicht eine verträumte Weltkarte wie jene auf dem Kühlturm des Kraftwerks Meppen-Huentel oder irgendwas anderes euphemistisch-kitschiges wie Blumen auf den grauen Schlotbeton malen können. Dann hätte man das Kraftwerk noch mehr lieb und würde ihm keine bösen Absichten unterstellen.

Wir sind in Rheine. Seitdem ich umgezogen bin ist meine Rechtschreibschwäche bezüglich der Worte Reihe, Rhein und Rheine noch größer geworden. Ich schreibe beim ersten Versuch alles falsch. Trotz Rechtschreibschwäche ist es in Rheine warm, die ersten Anzeichen von Frühling sind zu erkennen. Die Sonne scheint, es weht ein laues Lüftchen. Diese Beschreibungen erwecken die irreführende Illusion, dass Rheine ein schöner Ort sein könnte. Nein. Rheine ist trostlos. Und trostlos ist das traurigste und hoffnungsloseste Wort der deutschen Sprache. Neben grau vielleicht, wobei man bei grau bedenken muss, dass man ein weiches Grau so herstellen kann, indem man einfach alle bunten Ölfarben zusammenkippt und umrührt. Während grau also eher eine Bezeichnung für die temporäre Depression von etwas ist, so ist trostlos die Alkoholabhängigkeit kurz vor der Leberzirrhose. Die Trostlosigkeit des Wortes trostlos liegt an dem Nichtvorhandensein des Trostes. Einerseits hat also der Ort niemals Trost für seine trostlose Situation bekommen, andererseits kommt auch niemand auf die Idee Rheine Trost zu spenden. Und selbst wenn man Trost spenden könnte, so ist spenden immer eine freiwillige Aktion und die Menschen sind seit 10.000 (nach dem Historiker Rio Reiser) Jahren selber grau und trostlos. Man sieht, dass sich Rheine wahrscheinlich niemals aus seiner Situation befreien kann. Grau auf der Strecke des Emslandexpresses sind auch zwei Orte, deren Namen einem beim gedanklichen Durchgang aller Stationen zu Recht nie einfallen: Leschede und Geeste. Ich bezweifle kaum, dass Salzbergen und Dörpen nicht minder grau sind, allerdings assoziiert man mit diesen Ansiedlungen irgendwas: Salzbergen liegt vor der Leberzirrhosenstadt Rheine und am Bahnhof von Dörpen hält man zwischen ganz vielen Containern und sieht den eigentlich Bahnhof nie. Aschendorf fällt einem immer ein, man weiß aber nie genau wo es liegt. Irgendwo im Emsland und in der Nähe von Dörpen. Aschendorf steht in großer Trostlosigkeitskonkurrenz mit Rheine, hat allerdings den winzigen Bonus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, welche sich in einem Gebäude befindet, das in einer ganz anderen Trostlosigkeitsliga spielt und es mit einer ganzen Stadt wie Magdeburg aufnehmen kann. Diese Nervenheilanstalt ist dazu da die Menschen von der allgemeinen Trostlosigkeit dieser Welt zu kurieren, allerdings ist dieser Bonus für Aschendorf nur winzig, da die Nervenheilanstalt sich damit rühmt insgesamt 45 Plätze für ein Einzugsgebiet mit zwei Millionen Menschen zur Verfügung zu stellen.

Einen wahrlich nicht von der Trostlosigkeit dieser Welt angegriffenen Menschen habe ich neulich auf der „Oldenburger Südbahn“ genannten Strecke getroffen. Als ich in Oldenburg zustieg war es schon recht voll und so musste ich die Schmach ertragen mich zu einer Dame auf einen Vierersitz zu setzen. Auf dem neben uns gelegenen Vierersitz saßen ein Herr mittleren Alters mit Schnurrbart und Latzhose und eine andere junge Dame. Ich vertiefte mich sogleich in meine Lektüre, bis ein weiterer Herr mittleren Alters den anderen Herren auf der gegenüberliegenden Vierersitzgruppe fragte, ob dort noch ein Platz frei sei. Dieser bejahte leise und der neu angekommene Herr setzte sich. Da sein Sitznachbar sich ebenfalls in Lektüre vertieft hatte, gab er der jungen Dame gegenüber die Hand und stellte sich mit Dirk vor. „Und wie heißt du?“, fragte er sie. Verlegen sagte sie: „Ich bin Anna.“ Dirk freute sich. Seine Sprache war etwas schwammig, er erzählte Anna, dass er vor 20 Jahren ein Schädel-Hirn-Trauma hatte. Dirk drehte sich zu der Dame, die mir gegenüber saß und stellte sich auch ihr vor. Ihr Name war Julia. Dirk konnte sich anscheinend Dinge besser merken, wenn er einen Reim daraus macht und so sagte er: „Julia, du bist cool, ja?“. Er machte eine kurze Pause und schaute sich um. Dann wandte er sich wieder zu Julia, schaute sie kurz zweifelnd an und fragte: „Bist du Pessimist?“ Julia war verwirrt, schüttelte leicht den Kopf und fragte: „Wieso?“ „Weil du einen Regenschirm dabei hast.“ Ich schaute nach draußen, sah die Sonne scheinen und musste schmunzeln. Julia lachte und verneinte. Es hätte morgens geregnet und sie wollte nicht nass werden. Dirk lachte. Julia musste aussteigen. Kurz, nachdem sie das getan hatte, fiel Dirk ein, dass sein Fahrrad noch im Zugflur herumstand und er schaute nach, ob es noch da war. Als er zurückkam setzte er sich mir gegenüber und stellte sich auch mir vor. Ich tat es ihm gleich. Er wandte sich zum bisher schweigenden Herrn nach links und fragte: „Hast du einen Medizinball verschluckt?“. Ich fing laut an zu lachen und ertappte mich dabei, dass mein Gelächter über die kugelförmige Gestaltung des mittleren Körperbereichs des Herrn vielleicht etwas respektlos sein könnte. Dann fiel mir allerdings ein, dass Dirk dies keinesfalls herabwürdigend meinte und ich musste erneut lachen, diesmal über mich selbst. Dirk fühlte sich an irgendwas erinnert und versuchte mir diese Erinnerung mitzuteilen, wobei ich seinen Gedankengang nicht ganz nachvollziehen konnte, da ihm der Name dieser Erinnerung nicht mehr einfiel. Er sagte: „… dieser Ball da, in diesem Film.“ „Cast Away!“, rief ich, „der Ball hieß Wilson!“. „Genau der“, lachte Dirk, wandte sich zu dem Herrn und fragte: „Heißt du Wilson?“ Der Herr verzog die Miene. Dirk musste aussteigen. Er gab allen noch einmal die Hand, auch Wilson, und Anna sagte: „Dirk, bleib wie du bist.“ Dirk lachte, antwortete ihr: „Nee, ich will mich verändern, das Leben bedeutet Veränderung!“ und verschwand. Wären wir doch alle wie Dirk.

Sind wir aber nicht. Deswegen trauen wir uns auch oft nicht laut in der Öffentlichkeit zu lachen, wenn wir alleine irgendwo herumsitzen und etwas Witziges in unser limbisches System dringt. Generell bin ich dafür, dass wir einige Dinge in unserer Gesellschaft grundlegend ändern sollten. Meine Mitreisende schlägt zum Beispiel vor, dass wir den so genannten Digraph Qu abschaffen und nur noch Q schreiben, denn das U fristet hinter dem Q ein so trostloses Dasein wie ein wartender Durchreisender am Rheiner Bahnhof. Als wir später am Tage an unserem merkwürdigen Ziel, einer Jugendherberge in Norddeich, noch merkwürdigere Pläne verfolgen und abends im „Familien- und Einzelpersonenraum“ diverse Getränke zu uns nehmen, kommt die Diskussion wieder hervor. Wir nehmen uns alle ein Buch vom Bücherregal, sind zunächst schockiert, dass keine Bibel dabei ist, und schlagen eine beliebige Seite auf. Jeder zählt nun wie viele Wörter mit Q er findet. Ich habe einen Hanni und Nanni-Band in der Hand und finde dementsprechend kein Q. Der Schnitt liegt dank einem Kinderbuch, in dem es um quakende Frösche geht, bei 1-2 Qs pro Seite. Wir diskutieren, ob das Weglassen des Us nach einem Q für die Gesellschaft wirklich so von Bedeutung ist und legen fest, dass es zumindest rein logisch Sinn ergibt. Die gesellige Runde kann sich allerdings nicht einig werden, ob das Vorhandensein vieler Qs in einem Text auf den Anspruch des Werkes schließen lässt. Zuhause führe ich ein Experiment durch und schlage unterschiedlichste Bücher zufällig auf. Hier mein Ergebnis: Douglas R. Hofstadter - Gödel, Escher, Bach: 1; Stowasser Lateinlexikon: 4; Thomas Mann - Buddenbrooks: 0; Peter Ustinov - Der Alte Mann und Mister Smith: 0; Michael Ende – Jim Knopf und die Wilde 13: 0; Irgendein Buch von Ulla Hahn, das mir ein unliebsamer Verwandter mal schenkte, ich noch nie las und mir auch den Titel auf den vier Metern vom Bücherregal zum Schreibtisch nicht merken konnte: 0; Stephen Hawking - Das Universum in der Nussschale: 0; Berthold Brecht - Der gute Mensch von Sezuan: 0. Qs stehen also in keinem Verhältnis mit dem Anspruch des Textinhaltes. Wer dieses Thema noch vertiefen möchte, kann gerne seine Doktorarbeit in Germanistik darüber schreiben. Es sei nur gesagt, dass das Q in deutschen Texten mit einer verschwindenden Häufigkeit von 0,02% vertreten ist. Ob man mit dem Auslassen des Us Papier sparen würde, weiß ich deshalb nicht genau. Komplett weglassen kann man es nicht, da man sonst schon wieder einen Digraph bräuchte. Aber es weiß doch jeder in diesem Lande, dass ein Q wie Kv (Zwei ekvivalente Kvallen malen in einem Akvarium gekvälte Akvarelle über die Höllenkval der Milchkvoten) gesprochen wird. Allein die französische Sprache scheint noch stümperhafter zu sein als die deutsche. Denn dort werden die Qs generell wie K gesprochen (Eine Clike kauft einen Chapeau Clak in einer Boutik), aber dort packt man hinter das Q nicht nur ein sinnloses U, sondern ab und zu auch noch ein E! Ein befreundeter Germanist kann meine Sparmaßnahme nicht nachvollziehen und sieht das Q und das U als Einheit. Aber vielleicht ist man als Germanist auch einfach genervt von den 500 Rechtschreib- und Grammatikreformen der letzten 10 Jahre.

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