Sonntag, 4. Januar 2009

Die Anderen Teil I – Mandy, Pasqual und Sven

Geschichten von Menschen, die denken, dass sie alleine sind

Wir sitzen im Zug. Endlich. Durch eine technische Störung fiel unser Zug aus. Nach einer gemütlichen, weil dicht gedrängten Fahrt in der 1. Klasse der Westfalenbahn haben wir aufgrund einer insgesamt 30minütigen Verspätung eben jener unseren IC-Freifahrtschein auch verspielen müssen, sitzen aber endlich im eigentlich Zug, dem Emslandexpress. Nur eine Stunde später als erwartet. Heute scheint irgendwie Asitag zu sein. Am Bahnhof Osnabrück standen wir neben zwei Nazis. In Rheine hängt eine Horde lauter Jugendlicher mit MacDonalds-Devotionalien rum. Ich verziehe mich ins gelbe Raucherquadrat. Dort erwarteten mich, wie ich jetzt leider noch nicht ahnen kann, meine nächsten Zugbegleiter. Die illustre Truppe besteht aus drei jungen Menschen, ungefähr Anfang 20, zwei Herren und eine Dame. Ich höre wie einer, nennen wir ihn ab jetzt Pasqual mit Q, davon erzählt wie derbe breit er von Spice geworden ist: „Erstmal 'n derben Kopf gezogen-ey und voll verballert gewesen.“ Lässig zieht er an seiner Zigarette, die er elegant zwischen Daumen- und Zeigefingerspitze hält und rotzt danach auf den Bahnsteig. „Aber 30 € für drei Gramm, ey, da fahr ich doch lieber nach Holland und kauf mir da richtiges Weed für“, antwortet sein Kollege, der ab jetzt Sven heißt. Die dritte im Bunde ist Mandy. Mandy lacht laut über Svens Aussage. Generell lacht sie sehr viel. Und sehr laut. Sie redet auch sehr laut. Wir steigen ein und bemerken bald, dass wir das Glück haben nur ein paar Plätze von Pasqual, Sven und Mandy entfernt zu sitzen. Die beiden jungen Männer verstehe ich nur manchmal. Mandys Stimme dagegen bohrt sich so sehr in mein Ohr, dass ich nicht lesen kann. Mandy redet nicht, Mandy schreit. Würde sie Weisheiten, gar nie gewusstes verbreiten, so würde ich aufstehen und rufen: „Mandy, erhebe deine Stimme, so dass du alle Menschen dieser Erde erreichen mögest!“. Aber ich bleibe sitzen. Mandy erzählt seit 20 Minuten das gleiche. Meine Mitreisende setzt ihre Kopfhörer auf. Mandy hat ein Kind, Kim. Kim ist fünf und tut mir Leid. Ihre Mutter bietet Sven und Pasqual gerade Jägermeister an. Sven will nicht so richtig, trinkt dann aber doch mit. Nachdem Mandy sich Mut angetrunken hat ruft sie endlich ihre Schwester an. Darüber, wie böse ihre Schwester aufgrund der Zugverspätung sein wird, hatte sie gerade ja schon 20 Minuten geschrien. „Meine Schwester wird das nicht verstehen, ey, da kann der Zug nebenan auch explodieren und die sagt: Hättest ja den auf dem anderen Gleis nehmen können!“. Mandy fürchtet sich etwas vor ihrer Schwester. Sie schreit ins Mobiltelefon, ihre Schwester hat anscheinend keine Lust auf Gehörschäden und akzeptiert Mandys Verspätung. Mandy ist davon genervt, anscheinend, weil sie nicht Recht hatte. Sie legt auf und schaut aus dem Fenster. Trübe Augen unter rotbraungefärbten Haaren., ihr Nasenpiercing glitzert verloren. Sie kuschelt sich in ihren Palifeudel und die schwarze Steppjacke, legt die Hand auf ihre an den Oberschenkeln weiße Jeans und seufzt. Und hält endlich mal die Fresse. Das hält allerdings nicht lange vor: „WENN FAHNE, DANN ALLE!“, ruft Sven und macht noch einen Jägermeister klar. „Endlich dicht, Zeit für mich“, sagt Pasqual, „das sing ich immer, wenn ich breit bin, ne, endliiiich dicht, Zeeeeit für mich!“. Mandy lacht. Sie freut sich schon auf zuhause, schließlich waren sie alle neun Stunden unterwegs. „Boa, weisste was ich gleich als erstes mache? Also erst Kim ins Bett, dann Computer an ... Musik an und dann 'n Kopf rauchen, ey. Und dann bleibt die Tür erstmal zu!“ Sven lacht. Rasanter Themenwechsel. Mandy erzählt, dass sie immer Geld kriegt, schließlich ist sie arbeitslos. Sie lädt Sven und Pasqual zu sich nach hause zum Saufen ein. Mandy bekommt einen Hustenanfall und raunt Sven an: „Ey, kannst du mal deine Hand aus meiner Hose nehmen, wenn ich fast kotzen muss?!“ Alle lachen. Pasqual schnurrt. Themenwechsel. Sie reden über Kim. Kim heißt eigentlich Kim-Jana. Mandy meint, dass Kinder immer scheu und ängstlich sind. Der Sohn ihrer Schwester hat allerdings ADHS. Kim hat das auch, meint Mandy, weil Kim immer nervt und die Aufmerksamkeit ihrer Mutter verlangt: „Ey weisst du, dann kommt sie an und zeigt mir 'n Bild und nervt dann so lange, bis ich was dazu sage. Oder Weihnachten hat sie mir ihr Geschenk gezeigt, obwohl ich ihr das ja geschenkt hab!“ Themenwechsel. Wo sind wir gerade? Liegt Haren vor oder hinter Meppen? Mandy fragt: „Ey, bin ich dumm oder was?!“ Ich lache. Sven auch. Mandy macht PSSSCHT. Sven soll sie nicht dauernd unterbrechen. Sie war neun Jahre auf Hauptschule und hat dann Real gemacht. Dabei betont sie, dass sie nicht auf der Realschule war. Und erst recht nicht auf Gymnasium, so wie Jessica. Mandy vertieft ihre Ausführungen zu Jessica: „Ey, Jessica, die is' hohl wie 'ne Tomate!“ Sie wird kritisch: „Leute, die nicht so extrem schlau sind, sind netter als Leute, die extrem schlau sind“, sagt Mandy. Themenwechsel. Mandy philosophiert über die Metapher der Schnecke als Bezeichnung für Frauen. „Dumm, schleimig, hässlich, das ist doch eigentlich 'ne Beleidigung!“. Sie bricht ab. Pasqual und Mandy gehen eine rauchen. Wo weiß ich nicht, wahrscheinlich präpubertär auf dem Klo. Ich hoffe, dass der überkorrekte Schaffner, der gerade zu unserem Ticket auch noch den Ausweis sehen wollte, sie erwischt. Sven hat übrigens Sonderschule, das hat er vorhin mal zusammenhangslos erwähnt. Der Schaffner läuft an uns vorbei. Er hat sie nicht entdeckt. Schade. Überlege, ob die Gruppe um Mandy nicht doch größer ist als angenommen. Jedenfalls redet Sven gerade mit den Reisenden auf der ihm gegenüberliegenden Vierersitzgruppe. Sie reden übers „derbe dicht“-sein und „saufen bis zum Kotzen“. Mandy und Pasqual lassen sich Zeit. Meine Mitreisende steigt aus. Zehn Minuten sind vergangen, es ist ruhig im Abteil. Da kommen sie wieder und lachen. Worüber erzählen sie nicht. Sven wirft ein, dass er seit 24 Stunden ungefickt ist; er ist nicht zufrieden mit seiner Situation. Es gibt noch eine Runde Jägermeister für alle. Dabei überlegen sie, wer noch alles wieviel Gras hat. „Wir müssen gleich aussteigen, man!“, erinnert Mandy, „ey, lass mal noch einen bauen!“ Der Zug hält: „Müssen wir jetzt aussteigen oder was?!“ „PAPENBURG RULES!“, ruft Pasqual. Ich höre Mandys schnarrende Stimme von draußen immernoch. Gedanklich wünsche ich ihnen nichts gutes. Nicht einmal „Macht es gut“ kann ich sagen.